Tilmann Heinig ist Speed-Kiter – der wohl einzige in Deutschland. Er hat die 50-Knoten-Marke mit einem selbst gebauten Board geknackt. Und er hält einen Weltrekord über die nautische Meile, der von offizieller Seite jedoch nie anerkannt wurde. Tilmann ist ein Freigeist, ein Tüftler, ein Künstler – einer, der sich keinen Konventionen beugen will und gerne mal aneckt oder provoziert. KITE hat ihn in seiner Board-Ausstellung in St. Peter-Ording besucht.
„1.000-Meter-Weltrekord – erster Mensch über 50 Knoten?“ So lautet die Betreffzeile einer E-Mail, die im Spätsommer bei uns ins Redaktionspostfach flattert. Absender: Tilmann Heinig. Dazu zwei YouTube-Links und zum Beweis die Daten seiner GPS-Tracker – die ständigen Begleiter während der Rekordjagden. Den vermeintlichen Rekord will er erst jetzt beim Durchstöbern seiner Daten wiederentdeckt haben. „Ziel war eigentlich die nautische Meile, aber da habe ich mich leider in der Strecke verschätzt und war zu kurz – daher nur 45 Knoten.“ Unter dem Video ein knapper Text: „Leider Strand zu Ende. 500 m: über 50 kn.“
Diese Beiläufigkeit fällt schwer zu glauben, da Tilmann – zumindest in den sozialen Netzwerken – kein Mann leiser Töne ist. Man kann ihn in einem anderen Video aus dem November 2013 dabei beobachten, wie er am Computer seine GPS-Daten öffnet und in Jubel ausbricht, als die Diagramme seines Höllenritts auf dem Bildschirm erscheinen. „Neuer Weltrekord nautische Meile – yeah!“ An Heiligabend 2013 folgt ein weiteres Video mit dem Titel „Weltrekord nautische Meile“, dieses Mal im dänischen Rømø: 47,2 Knoten – Tillmanns bisherige Bestmarke. Er sucht nach Anerkennung für seine Leistungen – in der digitalen Welt und irgendwie jetzt auch in der realen Welt mit seiner Ausstellung in der Bahnhofshalle von St. Peter-Ording. Wobei es zu kurz gedacht wäre, sein kleines Pop-up-Museum, das er während der Kitesurf Masters im August 2019 in mühevoller Kleinarbeit errichtet hat, als bloße Ego-Show eines Speed-Freaks abzukanzeln.
Das Herz auf der Zunge
Egal ist es ihm augenscheinlich nicht, ob andere seine Leistungen anerkennen, auch wenn er das im Gespräch verharmlost. Nachdem Flysurfer-Chef Armin Harich sich öffentlich auf Facebook über den offiziellen Weltrekord inklusive Urkunde der World Sailing von Rob Douglas über die nautische Meile (1.852 Meter mit 39,04 Knoten am 10. Juni 2019) im französischen La Palme gefreut hat, fällt Tilmann als Kommentator unter dem Post durch Pöbelei auf. Wie ernst er solche Beiträge meint oder ob es sich um seine Interpretation von Humor handelt, weiß wohl nur er selbst. Für Außenstehende kultiviert er sein Image als streitbare Natur, die das Herz auf der Zunge trägt. Im Oase-Forum war er berüchtigt für seine flapsigen Äußerungen. Gegen Naturschutzverbände wie den NABU scheint er eine akute Allergie entwickelt zu haben, weil sie aus seiner Sicht Kiter bedrohen. Und an der globalen Erwärmung hegt er Zweifel. Statt Global Warming erwartet Tilmann die nächste Eiszeit. All das tut er gerne kund, vor allem im Internet. Vielleicht eckt er aber auch einfach nur gerne an.
Scheiß auf die Regeln
Zweifellos, eine gewisse Ambivalenz kann man diesem Freigeist nicht absprechen: Einerseits scheint er nach Anerkennung und Aufmerksamkeit für seine Pionierarbeit im Speed-Kiten zu suchen – anders ist die Videoflut zu diesem Thema auf seinen Kanälen kaum erklärbar –, andererseits aber irgendwie auch nicht. Denn Weltrekorde müssen unter bestimmten Regularien aufgestellt und von offizieller Stelle, in diesem Fall das World Sailing Speed Record Council, beglaubigt werden, um als „offiziell“ zu gelten. Und genau auf diese Regeln hat der Mann von der Halbinsel Eiderstedt so gar keinen Bock. Ihm soll niemand vorschreiben, wie und bei welchen Bedingungen er durchs Wasser preschen darf und wann schnell wirklich schnell ist. Unter anderem die Mindestwassertiefe spielt bei den World-Sailing-Regularien eine Rolle. Und Tilmann kitet am liebsten in knöcheltiefem Wasser. Liquid Ice nennt er das. Je flacher das Wasser, desto schneller kitet Tilmann. Natürlich hat er auch seine Rekordfahrt am 24. Dezember 2013 auf Video festgehalten. Man kann ihn in seinem Element beobachten. Tilmann auf dem Wasser, einen Sechser-Slingshot-Rally am Haken, eines seiner unzähligen Prototypen-Boards an den Füßen, den auffälligen grellgelben Helm auf dem Kopf und einen GPS-Tracker im Bild, der permanent an der 100-km/h-Marke schrappt – viel mehr sieht man in dem Video nicht. Und doch bekommt man ein Gefühl für das irrwitzige Tempo, mit dem er durch die Pfützen bei neun bis zehn Windstärken über den Strand rast. Für ihn zählt nur der Speed, den seine beiden GPS-Geräte messen. Diese Zahlen auf dem Digital-Display sind seine einzige Wahrheit. Ob die Funktionäre des Segelverbands dies nun anerkennen oder nicht, sei ihm herzlich egal. Tilmann sieht das Recht des Schnelleren auf seiner Seite. Doch man bekommt den Eindruck, dass er seinem Speed-Konkurrenten Douglas dieses Stück Papier mit Stempel und Unterschrift irgendwelcher wichtiger World-Sailing-Menschen und den großen Buchstaben „WORLD RECORD“ darauf doch nicht so recht gönnen will.
So vernarrt Tilmann dem Geschwindigkeitsrausch hinterherjagt, so umstritten ist er in Teilen der Kite-Szene – nicht nur wegen seiner Äußerungen in der digitalen Welt. Während die Diskussionen um Kite-Verbote an der Nordsee 2016 hochkochten, trat Tilmann bei „ZDF heute in Deutschland“ auf. In den Fernsehbildern schießt er wie eine windgetriebene Rakete mit einem meterlangen Schleier aus Gischt hinter sich einmal mehr über den überfluteten Sandstrand. Für Tilmann ist dies Normalität, für die Kite-Kritiker bedeutet es Wasser auf ihre Mühlen. Denn solche Bilder wirken nach, besonders bei Kite-Laien. Manche halten ihm vor, dass durch derlei öffentliche Auftritte das falsche Narrativ von Kitern als Wahnsinnige, die mit rund 100 Sachen durch den Nationalpark Wattenmeer bügeln, verbreitet würde. Politik lebt eben von Meinung. Und Medien leben von starken Bildern – eben solchen wie die von Tilmann, auch wenn sie mit dem normalen Kiten eigentlich nichts gemein haben. Dann hilft es auch nicht mehr viel, wenn er vor der TV-Kamera begeistert erzählt, wie schön es sei, wenn Möwen ihn beim Kiten begleiten, gefolgt von einer Szene, die Naturschützern das Blut gleich wieder zum Kochen bringen dürfte. Tilmann filmt sich selbst nur eine Armlänge entfernt neben einem augenscheinlich sehr jungen Seehund stehend, der seiner Ansicht nach keine Angst vor Kitern habe, und dass Kiter der Natur schaden würden, sei alles „totaler Schwachsinn“. Dass man sich von Seehunden besser grundsätzlich aus Rücksicht auf die Tiere fernhält – ob sie nun Angst haben oder nicht –, finden viele Menschen unstrittig, Tilmann offenbar nicht.
Exoten auf Speed
Die Art des Kitens, wie Tilmann sie für sich entwickelt hat, ist alles andere als repräsentativ für die breite Masse. Ebenso wenig scheint das Gros der Kiter an der Speed-Nische interessiert zu sein. Ganz anders als bei den Windsurfern, von denen sich alljährlich das Who’s who der Speed-Szene im namibischen Lüderitz zum Kräftemessen in dem schmalen Speed-Kanal trifft. Exoten wie Tilmann, Rob Douglas oder ihr französischer Konkurrent Alex Caizergues ernten weit weniger Applaus, wenn sie neue Spitzengeschwindigkeiten aus sich und ihrem Material herausgekitzelt haben. Geringer einzuschätzen sind ihre Leistungen gleichwohl nicht. Denn um mit 100 Kilometern in der Stunde über das Wasser zu bügeln, dafür braucht es Mut, Kraft, Technik und eine ganze Menge Know-how.
Als Tilmann während der Kitesurf Masters in St. Peter-Ording in der alten Bahnhofshalle sein eigenes kleines Pop-up-Museum errichtet hat, durch das er mich stolz führt, will ich von ihm wissen, wie groß die deutsche Speed-Szene ist. „Hm, das dürfte überschaubar sein. Eigentlich bin ich der Einzige.“ Entsprechend gering ist das öffentliche Interesse an seinen Rekordfahrten. Sein YouTube-Kanal zählt zwar Dutzende Videos, doch nur wenige davon bringen es auf über tausend Klicks. Wir sind allein, als ich ihn an diesem Spätsommer-Nachmittag in seiner Ausstellung besuche. Vor der Tür des Bahnhofsgebäudes steht Tilmanns „Vette“ – eine rabenschwarze Corvette mit gelbem Taxischild auf dem Dach. Sein „Traumtaxi“ mutet skurril an – und wirkt gleichzeitig authentisch, wenn man Tilmann dazu erlebt.
Barfuß und in etwas zu kurzen lila Shorts posiert er stolz neben dem hochmotorisierten Gefährt. Er bietet damit sogar echte Taxifahrten in seiner Heimat an. „Traumtaxi: fett mit der Corvette durch Eiderstedt. Normaler Taxitarif“, ist auf der spartanisch programmierten Traumtaxi-Homepage zu lesen. Die Frage, wie das Taxigeschäft denn laufe, verkneife ich mir. Früher hat Tilmann mal als Busfahrer gearbeitet. Doch als er eine Kurve mit seinem Bus zu eng nahm, sei es damit vorbei gewesen. Womit er heute seinen Lebensunterhalt bestreitet, damit will er nicht so recht herausrücken. Irgendwie scheint ihm das aber auch nicht so wichtig. Keine Frage, dieser Typ ist speziell und für mich schwer einzuordnen, wirkt aber in seiner Verschrobenheit viel sympathischer, als ich es aufgrund seines digitalen Ichs erwartet hätte. Kiten und Speed – das sind die Dinge, die für ihn zählen. Und seine Boards, die er in liebevoller Handarbeit in der eigenen Werkstatt fertigt.
20 Jahre Kite-Geschichte in einer Bahnhofshalle
Die halbe Bahnhofshalle hat er mit den archaisch bis futuristisch anmutenden Brettern vollgestellt. Sie illustrieren seine persönliche Entwicklung und die „seiner“ Disziplin. Ein Tüftler war Tilmann schon immer. 1979 entwickelte er sein erstes Tragflügelboot, ein Vorläufer heutiger Foil-Technologie. Es folgten Windsurfboards aus eigener Produktion, bis er in den frühen 2000er-Jahren die ersten Speedboards mit flachem Unterwasserschiff fürs Kiten entwickelte. Zwischen seinen Prototypen, den selbst gemalten Schildern und Konstruktionszeichnungen sowie etlichen Zeitungsartikeln sind die Wände der Bahnhofshalle überladen mit Bildern und Skizzen.
Denn Künstler ist Tilmann ganz nebenbei auch noch. Ein halbmondförmiges Brett mit Schlaufen ist das erste windbetriebene Wasserfahrzeug, mit dem er die 100-km/h-Marke geknackt hat. „Ich war regelrecht besessen von der nautischen Meile. Ich glaube, niemand hat sich damit so intensiv auseinandergesetzt wie ich. Nachdem ich 47,2 Knoten in der Tasche hatte, habe ich mich als Rekordjäger quasi zur Ruhe gesetzt. High-Speed-Carving finde ich mittlerweile viel spannender“, erklärt Tilmann bei der Besichtigungstour durch den Bretterwald. Die Boards werden länger und schmaler, bis wir schließlich bei seinem „Dreizack“ angekommen sind. Mit dem Board ist er 2015 beim Coast 2 Coast angetreten, dem Long-Distance-Rennen zwischen Fehmarn und Dänemark, bei dem er zunächst den Start verpennte und dann eine Aufholjagd von Platz 344 auf Position sieben startete. Aus Versehen hatte er eine gelbe Flagge auf einem der Begleitboote falsch interpretiert, sodass das Feld ohne ihn startete. Zwei Minuten vergingen, bis er seinen Fauxpas bemerkte – und dann drückte er aufs Gas, um das Feld von hinten aufzurollen.
Tilmann fand heraus, dass die lange Zacke und die Channels an seinen Boards in Bezug auf Tempo und Grip besser funktionieren als Finnen – zumal er aufgrund der geringen Wassertiefe in seinem Lieblings-Speed-revier in St. Peter Ording ohnehin nur ultrakurze Finnen fahren kann. Durch die Aussparungen regelt er die Luftzufuhr während des Gleitens, so kann sich das Board nicht an der Wasseroberfläche festsaugen. Ab 2016 probierte er mit anderen -Shapes herum, bis er schließlich zu der Erkenntnis gelangte, dass ein einfacher langer Zacken mit ausgesparten Ecken im Unterwasserschiff noch schneller gleitet. Diese Entwicklung mündete 2019 schließlich in seinem „Powerboard“, bei dem der hintere Fuß weit hinter dem eigentlichen Board auf dem langen Tail steht. Damit zieht er mit Vor-liebe High-Speed-Turns und stemmt meterhohe Spray-Wände aus dem dünnen Wasserfilm über dem Ordinger Strand. So chaotisch dieser ganze Raum auch wirkt, so faszinierend sind die Leidenschaft und der Erfindungsreichtum, mit dem Tilmann seine Boards konstruiert und die Entwicklung seiner Nischendisziplin vorantreibt. Über 20 Jahre Kite-Geschichte fernab des Mainstream verteilt auf circa 60 Quadratmetern – dort hängt sein kiterisches Lebenswerk an der Wand. Man mag von Tilmann als Person halten, was man will, aber meinen Respekt hat er sich mit seinem Werk verdient.
Vermutlich wird Speed-Kiten auch die nächsten 20 Jahre kaum einen großen Hype erfahren und Menschen wie Tilmann werden exotische Ausnahmen bleiben. Doch mich hat er neugierig gemacht. Besonders sein nett gemeinter Satz zum Abschied geht mir seitdem nicht aus dem Kopf: „Du hast dafür die richtige Statur. Rob Douglas ist auch so eine Kante. Da brauchst du nicht mal extra Blei anzulegen, um bei richtig viel Wind schnell zu sein.“ Bisher hielt ich 100 Kilogramm verteilt auf 1,90 Meter beim Kiten nicht unbedingt für einen Vorteil, doch als mir Tilmann erzählt, dass kürzlich ein Speed-Neuling mit einem seiner Boards problemlos 70 Kilometer in der Stunde geknackt hätte, ist mein Ehrgeiz geweckt. Das will ich selbst ausprobieren, auch wenn mir die Vorstellung, mit einem Affenzahn durch zwei Finger breit Wasser zu pflügen, zunächst mal eine gehörige Portion Respekt einjagt. Aber wir werden sehen. Falls sich noch jemand außer mir dazu inspiriert fühlt, das selbst einmal ausprobieren zu wollen: Tilmann hat ein paar seiner Boards beim Kite-Power-Shop direkt hinter dem Deich nahe der Strandauffahrt in SPO deponiert, die er gerne zum Testen zur Verfügung stellt. Natürlich auf eigene Gefahr, denn bei dem Tempo tun Stürze richtig weh. Wenn das nächste Mal der Strandparkplatz in SPO unter Wasser steht und acht bis neun Windstärken über die Nordsee fegen, wer weiß, vielleicht wird ja ein Mutiger seinem Rekord gefährlich – natürlich ohne Urkunde.
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