Wohin zum Kiten im Herbst? Na klar: dem Wind hinterher und hinein in den winterlichen Passatgürtel, in dessen Herz die Kapverden nur knappe sechs Flugstunden von Deutschland mit weißen Stränden, Wellen und einer üppigen Windstatistik locken. Also landet die freie KITE Autorin Almut Otto Ende Oktober auf Boa Vista. Trotz Vorsaison die richtige Entscheidung – obwohl dank 90-prozentiger Windausbeute Sightseeing und Nachtleben etwas zu kurz kommen.
Text & Fotos: Almut Otto
„I thought, you were on your twintip“, kommentiert Sean Guy meine Wellenritte in Ervatão. Die Worte des kapverdischen Strapless-Pros, der mir heute sein hauchdünnes 5,3er-Wave-Board ausleiht, verstehe ich als Kompliment. Zugegeben, bis ich die kleine Zicke zum Fahren bekomme, schlucke ich viel Wasser. Doch es lohnt sich. Nicht nur das: Der ganze Ausflug in den Südosten Boa Vistas ist unvergesslich. Nur kurz fahren wir über eine Asphaltstraße, bis sich der Allrad-Pick-up über Kopfsteinpflaster quält. Während wir darüber sinnieren, wie lange es wohl dauerte, die Steine in Handarbeit über die Insel zu legen, wird der Weg noch unwegsamer. Die letzten Kilometer der knapp einstündigen Fahrt verlaufen über eine unbefestigte Piste. Ausgewaschene Erdlöcher vereinen sich mit willkürlich verteilten Felsbrocken zu einer fordernden Off-Piste-Route. Genau der Grund, warum ein Tourist immer einen Guide dabeihaben sollte. „Meistens fahren wir für zwei Tage her“, erzählt Sean, dessen französischer Vater François als erster Europäer die Bedeutung der Kapverden für den Wassersport entdeckte. Nach einem Zwischenstopp auf Sal gründete der ehemalige Windsurf-Profi 1995 in Sal Rei den Boavista Wind Club. Sean, der Kite-Manager, teilt sich die Station heute mit António Galvão, der den Windsurfing-Part betreut. Sean ist überzeugt: Boa Vista ist für Anfänger genauso perfekt wie für Experten. Ervatão bietet sogar einen angenehmen Einstiegsbereich. Der Local schwärmt von seinen Trips in den Süden: „Bei Nordostwind und -Swell hat es hier beste Sideshore-Bedingungen und perfekte Wellen.“
Schildkröten on tour
Wer im Sommer Ervatão besucht, kann Unechte Karettschildkröten beobachten. An die 70 Prozent der auf der Roten Liste stehenden Kriechtier-Population von Boa Vista sollen hier laichen. Mittlerweile gibt es auf den Kapverden das einheimische Tierschutzprojekt Biodiversidade. Auch Kite-Pro Mitu Monteiro aus Sal unterstützt dessen Aktivitäten. Freiwillige Helfer kümmern sich von der Nestbewachung bis hin zu Touristenführungen um die vor dem Aussterben bedrohten Tiere. Im Juni verbuddeln die gepanzerten Vierbeiner ihre Eier im Sand, etwa 40 bis 60 Tage später krabbeln ihre Sprösslinge zurück ins Wasser. Doch die Natur ist hart: Nur eine von 1.000 Schildkröten erlebt das Erwachsenenalter. Übrigens: Für knapp 40 Euro kann jeder Tourist eine Patenschaft für ein Schildkrötennest erwerben.
Downwinder-Paradies
In der Kite-Hauptsaison von Dezember bis Mai organisiert Sean Kitesafaris. Neben dem Barbecue-Trip nach Ervatão geht es von hier per Downwinder zur Praia de Santa Mónica, dem angeblich schönsten Strand der Kapverden. Da die Insel fast kreisrund ist, ist diese Tour nicht ohne. Aus perfekten Sideshore-Bedingungen wird alsbald gefährlicher Offshore-Wind. Bei Problemen geht’s auf den Atlantik. Nur mit viel Glück fangen die Ilhas de Sotavento, die südliche Inselgruppe der Kapverden, Kiter auf. Danach ist Brasilien die nächste Station. Sean hat bei dieser Tour immer einen Kitelehrer, einen Kite-Caddie und einen Fahrer dabei. Auch wir machen einen Downwinder: Er führt von Sal Rei, der mit circa 6.000 Einwohnern größten Stadt Boa Vistas, knapp fünf Seemeilen südlich entlang der Praia do Estoril, der Praia Carlota, der Praia das Dunas bis zu den Sanddünen am unteren Ende der Praia da Chaves. An diesem fast menschenleeren Strand laden Wellen zum Spielen ein. Per Pick-up geht es bequem auf dem Landweg wieder zurück.
Kitesafari in den Norden
Einen Tag vor der Abreise bietet Sean ein ganz besonderes Safari-Schmankerl: Wir fahren zur North Shore nach Espingueira. Wer die Einsamkeit sucht, ist hier richtig – zumindest außerhalb der Saison. Mit zehn Kitern auf dem Wasser könnte es schon mal eng werden, weiß der Local. Denn erfahrungsgemäß schaffe es nicht jeder, bei den Onshore-Bedingungen durch die Wellen zum äußeren Riff hinauszukreuzen. Also tummelt sich in der Hauptsaison alles im Beachbreak. Doch wir haben Glück, der Strand gehört uns. Während Sean die Uferwellen schlitzt, begebe ich mich zum Riff. Gut zu wissen: In der Nähe von diesem Beach gibt es eine kleine, aber feine Eco-Lodge gleichen Namens. Eine Oase für alle, die abends Ruhe genießen möchten.
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Rettungsmodus: on
Mondwechsel: Der Shorebreak vorm „Hotel Riu Karamboa“ ‒ hier ist mein Quartier ‒, kann gnadenlos sein. Der Swell erreicht in der Bucht locker die Dreimetermarke. Dann brechen die Wellen nicht nur am Strand, sondern auch knapp 75 sowie 150 Meter vom Beach entfernt. Das Kiten ist anspruchsvoll, doch ich habe Spaß, werde leichtsinnig und dann passiert es: Mein Kite kracht ins Wasser. Mist! Schon verschlingt eine ungnädige Welle den Schirm, donnert auf mich zu, zwirbelt die Leinen um meine Beine, reißt mich mit – und spuckt mich irgendwann prustend wieder aus. Kurze Verschnaufpause. Schnell die Fesseln abstreifen. Doch die nächste Welle kocht mich weich. Beine befreien und weg mit dem Zeug, jetzt geht’s ums Überleben, cool bleiben! Luft holen, spülen lassen, auftauchen – und das unzählige Male. 150 Meter Waschgang sind lang. Endlich spuckt mich auch die letzte Welle aus. Julio, Kitelehrer vom Surf Vista, zieht mich aus dem Wasser. Gemeinsam mit Tuga ist er per Quad zu Hilfe gekommen. Das beruhigt: Trotz Vorsaison funktioniert das Rettungssystem. Die Locals haben stets ein Auge auf die Kiter. Und sie stehen untereinander in Kontakt, stellen wir bei einer anderen Rettungsaktion fest: Ein Anruf vom Surf Vista beim Boavista Wind Club – und schon ist das Rettungsboot unterwegs.
Cancelled: Sightseeing und Flautenkiller
Wir haben Glück: Flaute gibt’s kaum. Abends fallen wir todmüde ins Bett. Leider verpassen wir deshalb am Freitag an der Esplanada Silves und am Samstag am „Café Kriola“ die Live-Musik. Schade, gerne hätten wir die melancholische Morna mal gehört. Doch das Nachtleben geht erst ab zehn Uhr abends los. Aufgrund einer Magenverstimmung schaffen wir es nicht einmal, auswärts essen zu gehen. Dabei soll gerade der Fisch nirgends frischer sein als hier. Empfohlene Restaurants wie das „Blue Marlin“ oder „Bia“ lernen wir leider nicht kennen. Demnächst soll in Sal Rei sogar eine Surf-Bar eröffnen – neben dem Wind genug Gründe, nochmals nach Boa Vista zurückzukehren.
Doch auch tagsüber hat Sal Rei etwas zu bieten. Klar, Fischhalle und Fischmarkt sind ein Muss. Ebenso lädt der Markt mit lokalen und senegalesischen Produkten zum Shoppen. Die im Kolonialstil erbaut Kirche Santa Isabel ist nur von außen zu bewundern. Kleiner Tipp: Mit seiner Fröhlichkeit ist der sonntägliche Gottesdienst auch für Nichtchristen interessant. Ein Blick auf die Barracas, in denen die Hotelangestellten wohnen, gibt die Armut der Bevölkerung preis. Auch dieser Kontrast gehört zu den Kapverden. Nichtsdestotrotz: Die Einheimischen haben stets ein Lächeln im Gesicht. Neid scheint ein Fremdwort. Meine Bemerkung, dass ich die scheinbar untrübbare Lebensfreude der Kapverdier ‒ im Vergleich zu anderen Ländern, die ich bisher besucht habe ‒ bewundernswert finde, wird mit einem noch größeren Strahlen quittiert.
Gut zu wissen
Die Insel Boa Vista gehört zur unabhängigen Republik Kap Verde und ist mit 620 Quadratkilometern die drittgrößte Insel des atlantischen Archipels, der etwa 455 Kilometer von Senegal entfernt liegt. Bis 1878 verschafften der Sklaven- sowie Salzhandel Boa Vista frühen Reichtum. Ein Relikt davon ist das Fort auf der Ilhéu de Sal Rei. Als der Salzhandel zusammenbrach, bauten später jüdische Siedler eine Ziegelfabrik auf Boa Vista. Sie vernichteten dadurch den Tamarisken-Bestand und ließen eine Wüstenlandschaft zurück. Heute leben die Einheimischen vor allem vom Tourismus. Neben Wassersport bieten sich an Flautentagen Quad-Ausflüge an. Im Sommer geht’s zum Whale Watching oder zur Schildkröten-Beobachtung.
Wind:
Nordost-Passat, beständig von Dezember bis Mai mit circa vier bis fünf Windstärken, die lokal, je nach Spot, verstärkt werden können.
Temperaturen: 23 °C bis 29 °C, selten unter 20 °C;
Wasser: circa 23 °C bis 26 °C (Lycra, Shorty oder Kurzarm-Neo)
Anreise:
Pass muss bei Ausreise noch mindestens sechs Monate gültig sein;
Flughafensicherheitsgebühr ca. 31 € plus 2 € Tourismussteuer pro Nacht
Landeswährung:
Cabo Verde Escudo (CVE), Kartenzahlung oder bar in Euro verbreitet möglich
Kite Spots:
Liowa (W): Riff vor Sal Rei Hafen, zwei bis vier Meter Welle, insbesondere bei NW-Swell
Praia do Estoril (W): Ufer böig; Boavista Wind Club und Planet Allsports
Praia Carlota (W): Ufer böig, eventuell Shorebreak, Düne verstärkt den Wind, Dünungswelle; ablandiger Wind = Speedpiste; Planet Allsports und Kite Kriol
Praia das Dunas/„Riu Karamboa“ (W): anspruchsvoll, hoher Shorebreak; 300 Meter nördlich einfacher, Düne verstärkt den Wind, teilweise sehr schöne Wellen; Surf Vista
Kitesafaris:
Beispiel: Ervatao mit dem Boa Vista Wind Club für ca. 45 Euro
Varandinha (SW): Sideshore bis ablandig, große, langsame Wellen, sehr anspruchsvoll, Sandstrand und Klippen
Praia de Santa Mónica (S): Speedpiste, Sideoff, starke Strömung, Shorebreak
Curral Velho (SO): Sideshore, Shorebreak, starke Strömung, Dünungswelle
Porto de Ervatão (SO): bei NO-Swell und NO-Wind konstante Sideshore-Wellen
Baya las Gatas (NO): Side-Onshore
Ponta Antonia (NO): auflandig, Freeride-Revier; in der Bucht kleinere und draußen größere Wellen
Praia da Atlanta (N): Wellen und Flachwasser, manchmal starke Strömung, coole Pics mit Schiffswrack Cabo Santa Maria
Praia de Cabral (NW): Nordswell-Wellenspot
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