Mit etwas Vorbereitung und den richtigen Tricks können Kitesessions im Winter ihre ganz eigene Faszination entwickeln – und mächtig Spaß machen.
Wenn die Temperaturen in den einstelligen Bereich sinken ist für viele Kiter die Saison vorbei. Oder aber man bucht eine Fernreise, was 2021 bekanntlich schwierig ist. Kleiner Trost für alle, die dieses Jahr nicht in wärmere Gefilde flüchten können oder wollen: Mehr als zwei Wochen erkaufter Sommer ist für Normal-Kiter meistens eh nicht drin – viel zu kurz für einen langen Winter. Wer den Durst nach Wind trotzdem auf dem Wasser stillen möchte, sollte sich mit dem Thema Winter-Kiten beschäftigen. Denn eine Session bei Kühlschrank-Temperaturen muss nicht mit steif gefrorenen Fingern und schlotternden Zähnen enden. Zwei, die das wissen müssen, sind die Kiteprofis Finn Behrens und Mads Wollesen. „Wir sind eigentlich das ganze Jahr auf dem Wasser – auch an unseren Homespots“. Mit Homespots sind hier, wohlgemerkt, Nord- und Ostsee gemeint. Uns haben die beiden ihre 10 wichtigsten Tipps für Kiten bei Kälte verraten.
1. Keine Experimente bei der Spot-Auswahl
Besonders die Winter-Saison an Nord- und Ostsee bietet häufig verlockende Wellen. Doch wer im Notfall in 3° Celsius kaltem Wasser schwimmen muss, bereut schnell, nicht einen der meist leeren Flachwasserspots gewählt zu haben. Wer es nicht glaubt, legt sich im Neo in flaches (!) Wasser und findet im Selbsttest heraus, wann die ersten Kältesymptome auftreten. Je nach Körperbau und Verfassung sind das meist nur wenige Minuten. Stehtiefes Wasser ist also einer der wichtigsten Sicherheitsfaktoren. Auflandiger oder Side-Onshore Wind garantiert den Rückweg ans rettende Ufer, aus dessen beschützender Nähe man sich auch bei Flachwasser nicht zu weit entfernen sollte. Für den Winter hält man sich an die gewohnten Spots, an denen man sich bestens auskennt. Auf Entdeckungsreise geht man besser im Sommer.
2. Wassertemperatur berücksichtigen
Der Kiter und Allgemeinmediziner Dr. Walter Hirschmann rät: „Wenn man zu frieren beginnt, sollte man definitiv vom Wasser gehen. Regelt der Körper nämlich die Blutzufuhr für Arme und Beine ab, dann spürt man nichts mehr und bekommt saumäßige Schmerzen, kann motorisch nichts mehr steuern – nicht den Kite und schon gar nicht das Board. Wenn Symptome wie blaue Lippen und Muskelzittern auftreten, ist die Körpertemperatur auf 34°C abgesunken.“ Das Absinken der Körpertemperatur hängt aber nicht nur von der Außentemperatur ab. Feuchtigkeit und Wind beschleunigen die Auskühlung sehr stark. Zudem spielen der Körperbau und die Verfassung des Menschen eine wichtige Rolle. Fettpolster wirken beispielsweise isolierend. Auch das Verhältnis der Körperoberfläche zum Volumen beeinflusst die Abkühlung. Kleine Menschen, also auch Kinder, haben im Verhältnis zum Körpervolumen eine größere Oberfläche als große Menschen. Deshalb kühlen sie schneller aus.
3. Nicht alleine aufs Wasser gehen
Die eiserne Regel verliert auch im Winter nicht ihre Gültigkeit. Ein achtsamer Kiter in der Nähe ist die beste Lebensversicherung und der erste Teil in der Rettungskette. Da das Hörvermögen durch dicke Hauben eingeschränkt werden kann, verständigt man sich vor der Session mit dem Kite-Kumpel auf Notsignale per Handzeichen.
4. Material und Aufbau sorgfältig checken
Beim Aufbau ist größte Sorgfalt geboten. Finn warnt: „Ein unbemerkter Materialdefekt kann im Winter fatale Folgen haben. Trotz Kälte sollte man sich Zeit nehmen und in Ruhe alles ganz genau checken: Leinen, Anknüpfpunkte, Quickrelease Ventile. Den Kite pumpe ich möglichst straff auf und checke das Tuch auf Beschädigungen.“ Wenn es der Spot erlaubt, wird im Windschatten des Autos aufgepumpt. Eine winddichte Jacke schützt vor unnötigem Kälteverlust durch den Wind-Chill Effekt. In den Neo schlüpft man erst, wenn Kite und Board fahrbereit sind.
5. Die richtige Bekleidung wählen
Wer friert, kann die Session nicht genießen und setzt sich erheblicher Gefahr aus. Wenn möglich, zieht man sich im warmen Auto um. Ein geräumiger Camper erleichtert dies im Vergleich zu einem Fiat Panda dramatisch. Der dicke Winter-Neoprenanzug sollte nicht weniger als fünf Millimeter dick sein, für chronische Frostbeulen sogar sechs Millimeter. Oder man greift alternativ zum Trockenanzug. Wichtig: der Anzug sollte trocken sein, bevor man ihn anzieht. Zum Neo empfiehlt sich ein dünner Unterzieher mit wärmereflektierender Innenbeschichtung sowie Neopren-Schuhe mit hohem Schaft. Der Beinabschluss des Neos wird über den Schuh gestülpt und mit einem Klettband fest fixiert. Das verhindert unangenehmes Eindringen von Wasser. Viele Winter-Neos verfügen bereits über eine integrierte Haube. Die wärmende Kopfbedeckung lässt sich aber auch einzeln kaufen. Absolute Pflicht sind Handschuhe. Fingerhandschuhe sind etwas beweglicher, Fäustlinge gelten dagegen als wärmer. Eine Neopren-Jacke oder zumindest ein Windbreaker bilden eine gute Ergänzung für das funktionelle Winter-Outfit.
6. Nicht mit leerem Tank loskiten
Was sollte man vor dem Winterkiten trinken und essen? „Aus meiner Erfahrung heraus ist eine warme fleischhaltige Mahlzeit oder eine gesunde, deftige Brotzeit mit Schinkenbrot 2-3 Stunden vor dem Wassersport sinnvoll. Eine Tasse heißer Früchte-Tee mit Honig (immunstärkend) kurz vor dem Wassergang ist eine gute Sache“, erklärt Dr. Walter Hirschmann. Der Grund: Fleisch erzeugt Wärmeenergie beim Verdauen, und das Brot bietet die Carb-Energie mit den nötigen Elektrolyten. Natürlich geht das auch ohne Schinkenstulle – z.B. mit eiweissreichem (wahlweise veganem) Käse, Hummus oder Veggie-Wurst, die genau so mundet und viel Protein liefert.
7. Aufwärmen und die Muskeln lockernn
Um Körper und Kreislauf im Winter auf Betriebstemperatur zu bringen, ist ein sorgfältiges Warm-Up Programm ein Muss. Gleichmäßiges auf der Stelle Laufen oder Hüpfen, Hampelmänner, Liegestütze, Armekreisen, Rumpfbeugen, leichtes Stretching – alles einfache Möglichkeiten, die jeder individuell für sich kombinieren kann. Wichtig ist nur: Alle Körperteile sollten vor dem Kiten ausreichend bewegt, aufgewärmt und gelockert sein.
8. Die Hände warm halten
Trotz geeigneter Handschuhe sind es meist die Hände, die zuerst frieren und zum Abbruch der Session zwingen. Kalte Hände werden irgendwann steif und dann wird es gefährlich. Mads hat dafür einen Insider-Tipp: „Man startet mit ein paar lockeren Schlägen in die Session und fährt sich etwas warm. Nach circa zehn Minuten legt man eine kurze Pause ein. Die Finger sind dann meist schon leicht ausgekühlt, aber noch nicht richtig kalt. Jetzt die Finger stark bewegen und durch Kreisen der Arme die Durchblutung fördern. Nach kurzer Zeit sollten die Hände wieder auf Temperatur kommen. Danach hat man meist für einen längeren Zeitraum Ruhe.“
9. Das eigene Limit (und Material) kennen
Wer sich im Winter falsch einschätzt, kann sich deutlich schneller mit unlösbaren Problemen konfrontiert sehen als im Sommer. Sicheres Höhelaufen bei unterschiedlichen Windbedingungen ist Voraussetzung. Außerdem sollte man gut mit dem Relaunch-Verhalten seines Kites vertraut sein. Wenn der Schirm an der Wasseroberfläche klebt und den Neustart verweigert, kann es schnell kritisch werden. Der Windbereich
und die Schirmgröße sollte so gewählt werden, dass das absolute Low- und Highend nicht ausgeschöpft wird. Es gilt die Komfortzone. Diese liegt, je nach Fahrkönnen und Erfahrung, bei den meisten Kitern zwischen 12 und 25 Knoten.
10. Nichts überstürzen
Da Stürze nach dem ersten ungewollten Wasserkontakt ganz automatisch vermieden werden wollen, konzentriert man sich besser auf die Tricks, die man mit hoher Wahrscheinlichkeit sicher stehen kann. Einfache eingehakte Sprünge mit Grabs und Rotationen halten das Risiko in Grenzen.
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