Den gut bezahlten Job aufgeben, um jede Minute ins Kiten zu investieren und im World Cup mitzumischen – für die meisten Menschen der Ü40-Generation ein unorthodoxer Lebensentwurf. Das Hobby zum Beruf zu machen klingt zwar verlockend, doch gerade für Kiter ist das kein Selbstläufer. Finanzielle Einschnitte und Verletzungssorgen sind die Kehrseite der Medaille. Sonja „Sonni“ Bunte hat es trotzdem gewagt. Seitdem ist die Hamburgerin so richtig „in love“ mit ihrem Leben. KITE Autor Axel Reese hat sie getroffen, um über ihren Weg in ein glückliches Leben zu sprechen.
Beste Voraussetzungen, um die große Kohle zu verdienen: Mit Mitte 30 saß Sonni bereits in einer Führungsposition bei einer großen Sport-Handelskette. 65-80 Stunden Arbeit pro Woche, ein 40-köpfiges Team – sie wurde in ihrer Branche als weibliche Top-Führungskraft gehandelt. Sonni war schon immer recht ehrgeizig, fleißig und zielstrebig. BWL-Studium, dann ein Trainee-Programm bei einer Modehandelskette in Düsseldorf und schließlich der Wechsel nach München in den Vollgas-Job. Es war die Karriere, auf die sie immer hingearbeitet hatte. Doch irgendetwas fehlte. Länger als drei Wochen ohne Wasser, Wind und Strand waren für Sonni schwer auszuhalten und die Stimmung drohte zu kippen.
Alles begann in einem Tauchurlaub auf Boracay. Ihr damaliger Freund nahm spontan ein paar Kite-Stunden. Sonni beobachtete ihn von der Strandliege aus. Es dauerte nur ein paar Stunden, bis sie es selbst probieren wollte. „Vom ersten Augenblick an war ich infiziert“, erinnert sie sich mit leuchtenden Augen. Sie zog nach Hamburg, um möglichst viel Zeit auf dem Wasser verbringen zu können, und trainierte zwei Jahre, so oft es ging. „Seitdem war ich totally in love mit dem Kiten“, erzählt sie bei unserem Treffen. Mehr und mehr wuchs sie in die lokale und internationale Kite-Szene hinein und begann, mit ihrem Kite-Bag die Welt zu bereisen. Doch es dauerte, bis sie sich dazu entschied, ihr Leben radikal umzukrempeln und fortan dem Kiten zu widmen. Zunächst ging es nach München, um den Karriere-Turbo zu zünden. Manchmal muss man Dinge ausprobieren, um zu wissen, was man nicht will.
Kiten, Tee, Sonnenuntergang - Sonnis Formel zum Glück
„Was ich mache, will ich sehr gut machen. Mein Team war zufrieden und es lief gut. Gut für meine Mitarbeiter, gut für die Abteilung und gut für das Unternehmen.“ Doch irgendwann liefen ihre Vorstellungen mit denen ihres Arbeitgebers auseinander und Sonni fand sich in einem Wertekonflikt wieder, der ihr den Abschied erleichterte. In ihr gärte bereits zwei bis drei Jahre lang der Gedanke, wie es wäre, aus dem Job auszusteigen. Immer wieder addierte sie alles auf, worauf es für sie im Leben ankommt. Und bald wusste sie: Viel Geld für Statussymbole wie eine schicke Wohnung und eine große Karre auszugeben gehört nicht dazu. Nun war der Zeitpunkt gekommen, die richtigen Prioritäten zu setzen und das Leben zu ändern. „Es sind diese Momente, wenn man vom Wasser kommt und erfüllt ist vom Spiel mit den Elementen, mit dem Wasser, dem Wind und der Bewegung. Das ist es, was ich brauche. Vielleicht noch getoppt von einem warmen Tee und einem schönen Sonnenuntergang. Mit den Jahren ist mir klar geworden, wie wenig man eigentlich braucht, um glücklich zu sein.“
Nach ihrem Exit aus dem Job 2013, damals war Sonni 36 Jahre alt, zog es sie zurück in ihre alte Heimat Hamburg. Sie absolvierte eine Kitelehrer-Ausbildung und gab Kurse auf Fehmarn. Ein Knochenjob: in Spitzenzeiten 13 Stunden Arbeit am Tag und bis zu sechs Kiteschüler gleichzeitig. Während der Saison lernen locker über 1.000 Menschen von Sonni das Kiten. Anstatt einer Mittagspause gibt’s eine Stulle stehend im Wasser und abends fror sie im Wohnwagen, in dem sie während der Saison schlief. „Irgendwann kannst du dich auch nachts nicht mehr richtig aufwärmen, denn über den Tag kühlst du bis aufs Mark aus.“ Klingt mehr nach Schufterei als nach Traumjob. „Klar war das anstrengend. Viel Arbeit, wenig Geld und arschkalt. Aber ich war glücklich.“
Vom Herbst bis ins Frühjahr wird die Arbeit angenehmer. In Brasilien und Ägypten arbeitet sie in Kite-Camps. In Boardshorts und bei über 30 Grad dort arbeiten, wo andere Leute Urlaub machen, das hat seinen Reiz. In dieser Zeit lernten nicht nur viele Menschen etwas von ihr, sondern sie zog daraus auch viel Know-how für sich selbst. Und natürlich nutzte sie jede freie Minute, um selbst auf dem Wasser besser zu werden.
Ungeplante Worldcup-Premiere
Über den Kitelehrer-Job öffneten sich neue Türen: Bei Boards & More, der Muttergesellschaft damals von North, heute Duotone, wurde man auf Sonni aufmerksam. Sie wird Teamrider und vertritt die Marken auf Test-Events oder Großveranstaltungen wie dem Kitesurf World Cup. Ebendort findet auch ihre Contest-Karriere ihren Ursprung, wenngleich eher zufällig. Sonni muss lauthals lachen, als sie von ihrem ersten Contest erzählt: „Ich bin da irgendwie hineingeschlittert. Damals brauchte ich noch eine Übernachtungsmöglichkeit beim World Cup und jemand sagte mir, auf dem Riders-Parkplatz wäre noch etwas frei. Also habe ich mich angemeldet. Ein Freund meinte dann, wenn ich mich schon anmelden würde, müsste ich auch mitfahren. Das war nicht mein ursprünglicher Gedanke, aber mehr als fair enough – schließlich handelte es sich um einen World Cup!“ Da damals die Disziplin Slalom bei den Damen chronisch unterbesetzt war und die Einstiegshürde für Sonni am machbarsten erschien, besorgte sie sich ein Raceboard, trainierte auf Fehmarn zwischen Fischerreusen Downloop-Halsen und nach 58 Minuten fühlte sie sich so weit, bei ihrem ersten Rennen an den Start zu gehen. „Da habe ich Blut geleckt. Ich bin eh ein kompetitiver Typ.“
Der Wechsel zum Strapless kam für sie genauso ungeplant. Durch eine lange unerkannte Fußverletzung hatte sie ständig Schmerzen beim Kiten. Die Schlaufen und das Raceboard wurden zur Qual. Also stieg sie aufs Strapless Directional um. Als sie das erste Mal in der Welle fuhr, war sofort klar: genau ihr Ding! Sie trainierte fleißig, fuhr gemeinsame Sessions mit Teamkollegen, die sie pushten. Wenn man Strapless-Ikonen wie Matchu Lopes, Airton Cozzolino, James Carew oder Jan Marcos Riveras als Trainingspartner hat, gibt das einen Extra-Boost fürs Training. Diese Herren sind für sie Idole, Ansporn, Freunde und Coaches zugleich. Sie waren es auch, die Sonni dazu bewogen, sich zu ihrem ersten Strapless Contest anzumelden. „An den World Cups teilzunehmen ist für mich eine enorme Motivation. Der Ansporn, die Herausforderung, noch besser zu werden, lässt mich zielgerichteter trainieren. Ich habe ein klares Bild von dem, wohin ich mit meinem Fahrkönnen kommen möchte. Klar, dass ich das Level der Jungs nie erreichen werde, aber es gibt mir eine Idee davon, was möglich ist.“
Das Leben ist kein Dauerurlaub
Um genug Zeit fürs Training zu haben, musste sie ihr Leben und ihre Jobs organisieren. In der Trainingszeit verdient man nichts und Contests verschlingen viel Zeit und Geld. Flüge, Hotels, Startgelder, das alles will bezahlt werden und nur vom Kiten allein kann auch Sonni – wie so viele andere Kite-Profis – nicht leben. Um sich ihren Lebenstraum zu finanzieren, hat sie verschiedene Freelance-Jobs, die mit Kiten nichts zu tun haben. „Es ist ein Riesenspagat, das alles unter einen Hut zu bekommen – zeitlich und finanziell. Aber wenn man sich gut organisiert, klappt das. Und wenn ich viel zu tun habe und trotzdem viel kiten will, dann schlafe ich halt weniger“, erklärt sie mit einem Augenzwinkern. Der Kiter-Lifestyle hat eben doch seine Kehrseite, auch wenn die kaum jemand sieht. „Klar glauben die Leute, ich wäre das ganze Jahr im Urlaub. Auf Instagram sieht das vielleicht auch so aus, aber da postet man ja auch mehr die tollen Momente und schöne Kite-Bilder. Aber natürlich gehört die Arbeit dazu.“ Sonni war von Anfang an realistisch genug, nicht alles auf eine Karte zu setzen. Die Mischung aus „normalen“ Jobs und ihrer Kite-Karriere ist für sie die smarteste Strategie. Natürlich schwingt dabei auch die Ungewissheit mit, wie lange sie den Sport auf hohem Niveau betreiben kann. Sie ist heute 43 Jahre alt. Da denkt man besser ein paar Jahre weiter, als es viele der 18-jährigen Profis tun.
Ihr Herz schlägt für die Welle. Doch gute Wave-Skills allein reichen nicht, um auf der Tour zu bestehen. „Das mit dem Strapless Freestyle habe ich anfangs eher notgedrungen gelernt. Ich hatte mich für den Contest in Brasilien angemeldet, weil es hieß, es sollte auch ein Wave-Contest sein. Irgendwie ging ich davon aus, dass der Contest in der Welle von Jeri stattfinden würde, die für Kiter ja eigentlich tabu ist. Also gleich zwei gute Gründe für mich, um dort an den Start zu gehen.“ Teamkollege Matchu Lopes dämpfte die Vorfreude auf den Event mit der Info, dass das Quatsch sei und dort ausschließlich Strapless Freestyle in Preá gefahren würde. Also legte Sonni Sonderschichten ein und trainierte Freestyle-Tricks. „Mittlerweile habe ich aber wirklich großen Gefallen daran gefunden.“ Auch wenn ihr Wellen lieber sind, lautet ihr Credo: Freestyle ist „part of the game“ und entweder man trainiert dafür – oder man fährt nicht mit. Ehrgeiz und Fleiß sind gerade fürs Strapless-Training durchaus nützliche Eigenschaften. Und man muss auf die Zähne beißen können. In Preá ging sie letztes Jahr mit einem gebrochenen Zeh an den Start. Das kabbelige Wasser verursachte höllische Schmerzen. „Ich wollte nicht heulend im Livestream zu sehen sein. Beim Rausfahren und Springen kamen mir die Tränen, beim Reinfahren versuchte ich zu lächeln. Doch die Euphorie hat es erträglich gemacht und ich habe sogar Tricks gezeigt, die ich vorher wegen der Verletzung gar nicht trainieren konnte.“
Lehrgeld in der Waschmaschine
Allerdings sind auch reine Wave-Events auf der Tour kein Selbstläufer. Zunächst musste sie lernen, die Wellen zu lesen, um sie ideal fahren zu können. Das Wasser formt eine sich ständig verändernde Spielwiese. Es reizt sie, bei stärkerem Wind aufs Wasser zu gehen und sich in immer größere Wellen zu wagen. Je größer der Swell, desto besser. Jedoch steigt damit auch das Risiko. „Links vorne, Wind von rechts – das ist meine Schokoladenseite. Letztes Jahr bin ich beim Contest auf Mauritius in Bel Ombre gestartet. Die Wellen dort waren noch heftiger als in One Eye. Außerdem kommt dort der Wind von links und die Wellen brechen meterhoch, teilweise close-out übers Riff.“ Sonni kassierte den bisher härtesten Wipe-out ihres Lebens und wurde heftig gewaschen. Ein Brecher nach dem nächsten prügelte auf sie ein. Irgendwie schaffte sie es wieder zurück aufs Board, wenn auch mit dröhnendem Schädel. „Ich wusste, hätte ich mich jetzt vom Rescue-Boot herausfischen lassen, dann wäre der Contest für mich gelaufen. Ich musste meine Angst überwinden und fuhr den Contest, wenn auch mit angezogener Handbremse, irgendwie zu Ende.“ Sonni beendete die Saison 2019 mit einem achten Rang in der Weltrangliste.
2020 wollte Sonni so richtig auf der GKA Tour durchstarten. Ponta Preta, Dakhla – es standen einige Leckerbissen im Tourkalender, sogar mit Wind von rechts. Sie hatte Trainings-Trips geplant, wollte ihre eigenen Kitesurf Camps veranstalten und für Duotone auf Test-Events arbeiten. Ihre Girls Camps waren schnell ausgebucht – und dann kam Corona. Doch die Zwangspause verhagelt Sonni nicht die Laune. Sie nutzt die Zeit fürs Training, arbeitet und plant um. Das Girls Camp gibt es dann eben im Herbst auf Fehmarn anstatt in Brasilien. „Das macht megaviel Spaß! Unter Männern gehen Frauen mit ihren Belangen häufig unter, äußern ihre Bedürfnisse selten so, wie sie gerne würden. Aber wenn eine Lehrerin es vormacht und Tipps und Ratschläge ,von Frau zu Frau‘ gibt in einer ,Mädelsrunde‘, dann entsteht ein besonderes Vertrauensverhältnis und Lernerfolge genau wie der Spaß sind viel größer!“
Man spürt, dass es Sonni darum geht, andere Menschen zu inspirieren, ihnen etwas mitzugeben. Ob es der entscheidende Tipp ist, endlich den Wasserstart zu meistern, oder es darum geht, jemandem neue Impulse zu geben, um im Leben eine neue Richtung einzuschlagen, für Sonni zählt das Vorankommen. „Manche Menschen werden wachgerüttelt, wenn sie von meinem Lebenswandel hören und denken: ,Das wär’s doch!‘ Insbesondere die 35- bis 50-Jährigen, die zwar mehr Geld, aber wenig Zeit haben, finden sich in meiner Geschichte wieder.“ Ihr Motto: Lebe deine Träume, träume nicht dein Leben. Dafür musste sie ihr Leben umkrempeln. Bereut hat sie den Schritt bis heute nicht – trotz mancher Schwierigkeiten oder Verletzungen. „Ich sehe das so: Der Weg ist das Ziel und der macht mir Spaß. Das ist das Wichtigste. Ich bin jedenfalls ,totally in love‘ mit dem Kitesurfen und meinem Leben“, sagt sie zum Abschluss und strahlt ansteckend über beide Ohren.
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