Wind für Langschläfer

Im späten Frühling und frühen Sommer schenken uns Hochdrucklagen eine Extraportion Wind. Wo tritt der am ehesten auf und welche Rahmenbedingungen sind dafür nötig? ­Wetterexpertin Sabine Schmidt hat die Antworten. 

FOTOS Daniel Pankoke, Lukas Stiller, Samuel Cardenas

TEXT Sabine Schmidt

Mit zunehmender Tageslänge und einer am Firmament stetig höher kletternden Sonne kippt der Zeiger auf der Genusswaage nun zunehmend in Richtung Meer und Kiten. Während wir im März und April noch vom Temperaturgegensatz zwischen dem Äquator und den Polen sowie den daraus resultierenden Sturmserien profitieren können, schwinden ab Mai die Westwetterlagen. Stattdessen nisten sich gern Hochdruckgebiete ein. Der Frühsommer macht sich breit. Während der Rest der Bevölkerung sehnlichst darauf wartet, kommt es bei Kitesurfern nun zunehmend zu frustriertem Achselzucken. Die Wind-App steht für die meisten deutschen Küstenabschnitte auf Dauerblau und Flaute. Ein Trip an die Nord- oder Ostsee kann sich aber trotzdem lohnen. Der Grund: Thermik! 

WIND FÜR LANGSCHLÄFER

Thermik ist an sich ein simpler physikalischer Prozess, jedoch ein schwierig vorherzusagendes Phänomen. Schwierig dahingehend, dass sie häufig nur lokal begrenzt und somit für Wettermodelle schwierig zu erfassen ist, sich in den Vorhersagen folglich nur unzulänglich widerspiegeln lässt. Diese konzentrieren ihre Berechnungen auf große Flächen. Lediglich die hochaufgelösten Modelle können solche lokalen Besonderheiten abbilden. Sie reichen jedoch meist nur 36 bis 48 Stunden in die Zukunft. Somit fällt eine langfristige Planung in Abhängigkeit zum Aufkommen von Seewind eher flach. Seewind gilt als Freund spontaner Unternehmungen. Seine weitläufig eher geringe Relevanz führt dazu, dass sich nicht viele für ihn interessieren und er nicht im Fokus der Wetterdienste steht. Für den normalen Wetteralltag ist die Vorhersage von Thermik lediglich im Bereich der Segelfliegerei, für Ballonfahrer oder ­Gleitschirmflieger wichtig, aber weder für Industrie noch für Landwirtschaft. Zudem nehmen thermisch bedingte Windsysteme nur in absoluten Ausnahmefällen bedrohliche Ausmaße an. Strandbesucher ärgern sich allenfalls über den kühlen Wind, der von der See herrührt. Statt der für den Nachmittag prognostizierten 25 Grad Lufttemperatur sorgt eine am späten Vormittag auflebende Brise ab den Mittagsstunden dafür, dass die Thermometeranzeige bei 20 Grad verharrt. Wer keinen Strandkorb gemietet hat, muss mit Pulli statt Bikini auskommen. Das Meer ist unruhig, Schaumkämme zieren die Wellen, Kiter werden stetig nervöser, Thermik baut sich auf.

Gerade im Frühjahr und Frühsommer sind die Chancen für thermischen Wind – auch Seewind genannt – prima. Jedoch ist Thermik mitnichten ein täglich wiederkehrendes Phänomen. Es gibt ein paar Dinge, die auf der Suche nach passenden Spots und Tagen Beachtung finden sollten, denn Seewind ist an einige relevante Rahmenbedingungen gebunden. Ein Hochdruckgebiet und ein blitzeblauer Himmel bieten eine super Ausgangslage. Weht der Wind bereits aus Richtung Meer, ist das ein zusätzlich unterstützender Faktor. Das bedeutet beispielsweise für den Spot Grüner Brink auf Fehmarn, dass der Bodenwind schon eine Komponente aus Ost, besser noch aus Nordost, haben sollte. In Sankt Peter-Ording sind hingegen westliche Winde hilfreich. Ein ausreichender Temperaturunterschied zwischen Meer und Land kurbelt thermischen Wind ordentlich an. Daher funktioniert der Seewind im Frühsommer über der kühleren Ostsee sehr viel besser als über der vom Golfstrom beeinflussten Nordsee.

Schematische Darstellung des Seewinds mit dem Hochdruckgebiet über dem Meer und tiefem Luftdruck über dem Land. Der Wind als Ausgleichsströmung weht vom Hoch zum Tief. Nachts kehrt sich der Prozess um, da die Luft über dem Land dann kühler (hoher Luftdruck) und die Luft über dem Meer dann wärmer (tiefer Luftdruck) ist. Der dabei auftretende Wind ist jedoch sehr viel schwächer als tagsüber.

HOHE TEMPERATUR ÜBER LAND IST ENTSCHEIDEND

Uns ist bekannt, dass Wind immer dann entsteht, wenn es einen Gradienten im Bodendruckfeld gibt. Bedeutet, dass sich auf einer bestimmten Strecke der Luftdruck um einen entsprechenden Betrag ändert. Je größer dieser Betrag ausfällt, umso stärker bläst der Wind. Für die Ausbildung des Seewinds braucht es diesen Gradienten zunächst nicht. Selbst bei schwachwindigen, stabilen Hochdrucklagen kann sich Seewind einstellen. Viel wichtiger ist eine hohe Temperatur über Land. Warum das so ist? Luft besteht als Gas aus vielen Luftpaketen, die Temperaturschwankungen ausgesetzt sind und mit einer Dichteänderung genau darauf reagieren. Bei Erwärmung wird Luft leichter und steigt auf, bei Abkühlung wird sie schwerer und sinkt ab. Luftpakete folgen somit in ihrem Dichteverhalten dem Tagesgang der Sonne. Ist der Himmel wolkenlos, kann die Sonne das Land kräftig erwärmen. Das Meer erwärmt sie ebenfalls, jedoch weniger stark als die Landmasse. So entsteht ein Temperaturunterschied zwischen Meer und Land.

Wärmezufuhr führt zu einer Verringerung der Dichte, die Luft wird also leichter und steigt auf. Nachfolgend verringert sich in diesem Bereich der Luftdruck. Am Boden entsteht ein kleines Tief und über dem Meer ein lokales Hochdruckgebiet (kühlere und schwerere Luft). Es resultiert eine Luftdruckdifferenz zwischen Land und Meer. Mittels einer Strömung, die wir als Wind spüren, setzt die Atmosphäre nun alles daran, diese Differenz auszugleichen. Sie schaufelt Luftpakete vom Meer in Richtung Land, um das entstandene Tiefdruckgebiet wieder aufzufüllen. Überall dort, wo im Tagesverlauf eine solche Differenz zwischen unterschiedlich erwärmten Flächen entsteht, kommt es also zur Ausbildung von thermischem Wind. Dieser Prozess dauert solange an, bis die Sonne untergegangen ist und sich beide Gebiete wieder relativ gleich temperiert zeigen oder aber bereits zuvor Wolken die Sonneneinstrahlung drosseln.

Auf Fehmarn haben Seewind-Suchende gute ­Karten, denn hier tritt er durch die lokalen Gegeben­heiten gleich an mehreren Spots häufig auf.

DIE FÜNF GOLDENEN ­THERMIKREGELN

Nicht immer stellt sich allerdings auch wirklich Seewind ein, wenn ein Hochdruckgebiet unser Wetter bestimmt. Folgende fünf Punkte gilt es im Hinterkopf zu haben.

01: Beliebte Monate für den Seewind sind April, Mai und Juni. Das bedeutet nicht, dass in den restlichen Sommermonaten keine Thermik aufkommen kann. Die ersten Wochen der Kitesaison sind allerdings begünstigt, da Nord- und Ostsee noch die Kühle des Winters in sich tragen. Je größer der Temperaturunterschied zwischen Land und Meer ausfällt, umso höher ist die Luftdruckdifferenz und umso stärker fällt der Seewind aus. Wenn im Hochsommer die Wassertemperaturen die 20-Grad-Marke knacken, nimmt die Anzahl der Seewindtage entsprechend ab. Ein Beispiel als grobe Orientierung (Hochdruckgebiet vorausgesetzt): Es sind im Mai acht Knoten Grundwind aus Nordost angesagt, bei einer Lufttemperatur von 25 und einer Wassertemperatur von zwölf Grad. Unter diesen Umständen kann spätestens ab 14 Uhr die Thermiksession auf der Ostsee beginnen.

02: Nahende Störungen verstärken den Seewind ebenso wie die Rückseiten von Tiefdruckgebieten. Durch vom Festland aus nahende Tiefdruckgebiete (im Sommer sind es häufig Gewittertiefs) wird Seewind aufgrund des sich zusätzlich verschärfenden Bodendruckgradienten gern verstärkt. Hier gilt zu beachten: Solange der Wind vom Meer kommt und gegen die Gewitter anstinkt, kommen diese dir auch nicht so schnell in die Quere. Behalte unter diesen Umständen den Horizont jedoch gut im Auge und reize die Seewindsituation nicht bis zum Schluss aus. Ist das Gewitter da, wird aus Spaß in Sekundenschnelle bitterer Ernst.

03: Seewind bleibt nur bis zum Abendessen. Meist verabschiedet er sich schon vorher. Senkt sich die Sonne in Richtung Horizont, wird die Wärmezufuhr gedrosselt und mitunter zügig drei, vier Gänge zurückgeschaltet. Hab folglich in den Abendstunden immer einen Blick auf die Wellenkämme am Horizont. Werden diese kleiner und die Schaumkronen weniger, heißt es: runter vom Teich und zusammenpacken.

04: Seewind orientiert sich an der Küstenlinie. Betrachtet man die Seewindgrafik, wirkt es, als würde der Wind frontal vom Meer auf das Land blasen. Das ist aber nicht ganz korrekt. Seewind orientiert sich häufig an der Orografie, schmiegt sich an die Landmasse und dreht ihr das Gesicht zu. Daher kommt der Seewind besonders in großen Buchten nicht komplett auflandig, sondern immer ein bisschen side-onshore.

05: Seewind zwischen zwei Landmassen verstärkt sich. Wie bei einer Düse müssen sich die Luftpakete dann nämlich zwischen zwei Inseln oder einer Insel und dem Festland hindurchzwängen. Das verstärkt den Wind. Am Beispiel Fehmarn hat ein wunderbarer Ostwindtag im Mai in der Orther Reede locker fünf Knoten mehr zu bieten als am Grünen Brink.

Im Frühjahr und Frühsommer können Poniente-Tage rund um Tarifa mit grandioser Seewindzulage aufwarten.

SEEWIND IST INTER­NATIONAL­

Eine Frage stellt sich allerdings noch. Ist Seewind ein globales Phänomen oder eine europäische Delikatesse? Seewind respektive Thermik funktioniert global. Überall dort, wo das Meer schön kühl und das Land sehr stark erhitzt ist, stellt sich im Laufe der spä- ten Vormittagsstunden Seewind ein. Dieses Prinzip funktioniert sogar an jedem Bergsee, solange er von kaltem Wasser gespeist wird. Dort heißt der thermische Wind entsprechend der geografischen Positionierung Berg-Tal-Wind. Hotspots in Europa sind hierfür der Malojasee, der Gardasee und der Comer See.

Es existieren weltweit ein paar weitere heiße Favoriten für Seewind. In unserer Nachbarschaft  haben Sardinien, Korsika oder auch Sizilien in den Frühlingsmonaten ein hohes Potenzial zu bieten. Dänemarks Fjorde garantieren im Frühsommer Seewind. In der dänischen Südsee, wo sich flache Sandbänke mit tiefem Wasser und kleinen Inseln abwechseln, kann es selbst im August zu thermischen Zirkulationen kommen. Nicht so stark wie im Mai, aber für eine Leichtwindsession reicht es oft aus. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen, also scheu dich nicht davor, deinen pessimistischen Freunden im Juni die Stirn zu bieten und bei einer Acht-Knoten-Prognose für die Ostsee zu sagen: „Ey Leute, ich düse ans Meer!“

1 | Hvide Sande – N 55° 58‘ 44.4“; O 8° 8‘ 34.8“ 

2 | Orth – N 54° 27‘ 0“; O 11° 3‘ 14.4“

3 | Grüner Brink – N 54° 30‘ 28.8“; O 11° 11‘ 60“

4 | Saaler Bodden – N 54° 18‘ 39.6“; O 12° 28‘ 48“

5 | Rosengarten/Rügen – N 54° 18‘ 3.6“; O 13° 25‘ 1.2“

6 | Walchensee/Bayern – N 47° 35‘ 38.4“; O 11° 22‘ 26.4“

7 | Comer See – N 46° 7‘ 26.4“; O 9° 17‘ 9.6“

8 | Gardasee – N 45° 45‘ 50.4“; O 10° 48‘ 36“

9 | Tarifa – N 36° 2‘ 6“; O 5° 37‘ 40.8“